Echter Gänsehautmoment
bv Hitzacker. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Das historische Datum, fest mit der Deutschen Einheit verknüpft, erinnert an erfolgreichen Widerstand und Bürgermut. Der Eiserne Vorhang bei Hitzacker aber tat sich erst zehn Tage später auf. Christian Zühlke erinnert sich noch genau, wie erstaunt er damals war. Der damalige Bürgermeister der Stadt Hitzacker und spätere erste gewählte Landrat (SPD) war nämlich überzeugt davon, dass sich das Tor im Grenzzaun auf dem Elbdeich bei Kaarßen, gegenüber der Elbestadt, schon am 18. November hätte öffnen müssen. „Das Rathaus war an jenem Tag voll von Journalisten, und viele DDR-Bürger, die mit ihren Trabbis den Landweg genommen hatten, waren auch da. Und alle warteten darauf, dass sich das Tor endlich auftut. Aber es geschah – nichts!“
Erst einen Tag später, am Sonntag, dem 19. November, öffnete sich der Grenzzaun auch bei Kaarßen. Eine Blaskapelle spielte dazu, ein Fotograf hielt den Moment fest. Der heute 85-jährige Zühlke erinnert sich an die Atmosphäre. „Es war beinahe gespenstisch, wie ruhig und diszipliniert die Menschen durch das Tor gingen. Da war kein Jubel, keine Freudenrufe, nur ungläubiges Staunen.“
„Trotzdem war es für viele der denkwürdigste Tag im Leben“, meint Klaus Lehmann. „In Hitzacker warteten die Menschen mit bangen Herzen: Wie wird das Wiedersehen, wo doch nahezu 40 Jahre der Trennung vergangen waren?“, erinnert sich der damalige Lehrer und spätere Leiter des Hitzackeraner Heimatmuseums: „Es war ein echter Gänsehautmoment.“
Lehmann war mit seinen Schülern am Morgen an die Elbe spaziert und an Bord der Fähre MS Drawehn gegangen. „Wollt ihr rüber?“, fragte Fährmann Michael Breese die Schar mehrerer Hundert DDR-Bürger am Sonntag um Punkt 12.30 Uhr, als sein Fahrgastschiff, die „MS Drawehn“, mit lautem Tuten zum ersten Mal am östlichen Ufer der Elbe gegenüber der Stadt Hitzacker anlegte. Das vielstimmige „Jaaa“ ging unter in einem allgemeinen Freudentaumel, als sich DDR-Bürger und die kleine Abordnung aus Hitzacker, die mit der Fähre gekommen war, in die Arme fielen. Den Mitgliedern des Blasorchesters aus der DDR-Ortschaft Kaarßen, die seit Sonnabendmorgen auf dem Elbedeich hinter dem Metallgitterzaun immer wieder Marschmusik gespielt hatten, ging in diesem Moment, überwältigt von diesem historischen Augenblick, die Luft aus.
So erinnert sich Karin Toben, damals dpa-Mitarbeiterin in Lüneburg, an den besonderen Moment: „Unter den Hunderten von Schaulustigen in Hitzacker brach ein nicht enden wollender Jubel los, als die ‚Drawehn‘, ein 300 Personen fassendes Ausflugsschiff, unter lautem Heulen der Sirenen Richtung Osten dampfte. Nach zehn Minuten machte Breese sein Schiff am steinigen Ost-Ufer fest. Damit konnte er auch seine Familientradition wieder aufnehmen, denn das letzte Fährschiff an dieser Stelle war am 23. April 1945 von den Amerikanern versenkt worden. Großvater Bernhard und Vater Hans-Heinrich Breese hatten es hilflos mit ansehen müssen. Als die ‚Drawehn‘ gegen 13 Uhr wieder nach Hitzacker zurücktuckerte, kam auch die Blaskapelle wieder in Fahrt: Auf dem Schiff intonierte sie den Marsch ,Liebesboten‘.“
Die Zeitzeugen Christian Zühlke, Klaus Lehmann, Karin Toben und Heinrich Rücker aus Kaarßen laden 35 Jahre danach zu einer besonderen Veranstaltung ein: Am Montag, dem 18. November, gibt es ab 18 Uhr in der Alten Sargtischlerei einen Abend voller Erinnerungen, mit Fotos, Filmen, Diskussionen und Berichten von Zeitzeugen.