bv Loitze. „Eigentlich müsste ich jetzt in Tränen ausbrechen“, lächelt Gisa Naumann-Namba etwas verloren – denn sie fühlt etwas ganz anderes: Nach 74 Jahren steht sie zum ersten Mal an dem Ort, wo sie 1950 in einer kalten Winternacht geboren wurde, hoch oben auf einem Hügel, mitten im Wald zwischen Loitze und Proitze. Die Lüchowerin, die Jahrzehnte in Japan und China gelebt hat, fühlt eher so etwas wie Befremden über den traurigen Zustand des einst so verwunschenen Anwesens – an das sie sich gar nicht selbst erinnern kann. Denn bereits als Zweijährige ist sie vom Galleyberg mit ihren Eltern nach Lüchow gezogen. Sie kennt die Idylle auf dem Berg nur von Schwarz-Weiß-Fotos.
Der inzwischen zugewachsene Galleyberg beherbergt immer noch ein ganz besonderes Haus, das „Zwergenstein“ getaufte Anwesen des Philosophen Dr. Leonard Galley. Deswegen wurde der Loitzer Hügel im Volksmund auch Galleyberg getauft. Es steht im totalen Außenbereich, heute wäre es unmöglich, für das Objekt eine Baugenehmigung zu erhalten.
„Und inzwischen ist der Ort im Grunde ein Lost Place“, stellt Gisa Naumann-Namba ernüchtert fest. Aber der einstige Zauber ist noch zu spüren. Schon der Weg auf den Berg ist märchenhaft, führt am „Zwergenstein“ vorbei durch einen inzwischen dichten Wald. Früher war der Hügel kahl. Er trägt den alten Namen „Unererkenberg“, hochdeutsch: Zwergenberg. Der Sage nach ein uralter Kultort, an dem Opfer für Quellgeister gebracht wurden. Noch heute liegt dort ein mächtiger Granitblock – der „Zwergentisch“.
Rückblick: Es ist Silvesterabend 1950. Es schneit ununterbrochen. Der viele Schnee hat die Wege zugedeckt. Die Hebamme ist nicht erreichbar. „Mein Vater hat sich dann auf den Weg gemacht, sie zu holen. Sie schaffen es gerade noch rechtzeitig. Um 18.05 Uhr erblicke ich das Licht dieser Welt bei Kerzenschein. Eine liebevoll gezimmerte Obstkiste diente als Kinderbettchen. Wir lebten zwei Jahre zufrieden und glücklich auf diesem Berg, sagte mein Vater Hans stets aus tiefster Überzeugung.“
Es war der Vater des Philosophen Galley, der den Berg im Jahr 1911 erwarb und dort Haus „Zwergenstein“ erbaute. Nach dem Krieg teilte der Sohn Dr. Leonard Galley das Haus mit anderen. Die ersten Mieter waren die Eltern von Gisa Naumann-Namba, die Flüchtlinge Hans und Else Naumann, geborene Abram. „Meine Mutter kam in Wolhynien zur Welt und wurde 1940 zwangsevakuiert in den Warthegau in Polen. Mein Vater Hans Naumann, geboren 1924, stammte aus der berühmten Schweizer Künstlerfamilie Widmann“, berichtet die Tochter. Das Schicksal verschlug das junge Paar nach Loitze, wo sie eine Wohnung bei Dr. Galley bekamen. „Ein kleines Schlafzimmer und eine Wohnküche. Mein Vater bekam 60 D-Mark Kriegsrente, davon mussten 20 D-Mark für Miete bezahlt werden, 10 D-Mark für Petroleum, es gab keinen elektrischen Strom und kein fließendes Wasser. Das wurde aus der Wassermühle geschöpft.“
Auch Jahrzehnte nach Galley wurde das Anwesen noch genutzt, später kümmerte sich ein Freundeskreis darum. Inzwischen verfällt das Objekt immer mehr. Galley erkannte in diesem Platz einen magischen Ort, den er mit Leben, Ideen und Technik füllte. Das Zentrum seines kleinen Reiches war ein Windmotor, den er „den alten Mann“ nannte. Er pumpte Wasser für Haus und Garten – und wurde von Galley selbst in Schuss gehalten. „Zwergenstein“ war für ihn mehr als ein Haus – es war Sinnbild seiner Weltanschauung. Natur und Technik, Mensch und Maschine sollten dort im Einklang stehen.