Eine Weihnachtsgeschichte von Undine Stiwich
lk Lüchow-Dannenberg. Mitten im Wald stand ein kleiner Tannenbaum. Er war so klein, dass sogar die Vögel ihn übersahen. „Ach“, seufzte das Bäumchen, „wäre ich doch nur so groß wie die anderen.“ So ging ein Jahr ins Land.
Das Bäumchen hatte nun schon zwei Zweige mehr bekommen, doch sehr viel größer war er immer noch nicht. „Ach, wie schön wäre es, wenn ich endlich groß wäre. Wenn meine Zweige so breit wären, dass die Vögel in mir ihr Nest bauen könnten.“ Ganz traurig schaute es in die Runde. Der Sommer war ins Land gegangen, der Herbst folgte. Und eines Morgens lag tiefer Schnee. Im Wald war es ganz still. Die Luft war klar, ganz oben am Himmel konnte man die Sonne hervorblitzen sehen. Der kleine Baum reckte sich, als wenn er noch die letzten Strahlen erhaschen könnte. Da hörte er plötzlich laute Stimmen.
Zwei Männer, mit Äxten auf der Schulter, gingen an ihm vorbei. Sie blieben bei einem anderen Tannenbaum stehen, schüttelten jedoch den Kopf und gingen weiter. „Was mögen sie hier suchen“, dachte der kleine Tannenbaum und erschrak, denn laute Schläge hallten durch den Wald. Die Männer kamen zurück. Sie zogen eine große Tanne, eine abgeschlagene Tanne. Das kleine Bäumchen konnte es nicht fassen. „Warum hat man die Tanne abgeschlagen“, warum nur? Es spürte ein leises Ziehen bis in seine Wurzeln, es schauderte ihn. Doch dann war wieder Ruhe im Wald.
Der Schnee schmolz und das Frühjahr zeigte sich an. Und dann kam wieder der Sommer, und der Herbst folgte. Und es kam der Winter mit Schnee und Eis. Wieder zeigten sich Männer mit Äxten, rodeten Tannenbäume, die auch nicht viel größer waren als das Tannenbäumchen. Die gefällten Bäume wurden auf einen Wagen geladen. „Wohin bringt man sie?“, fragte das Tannenbäumchen einen vorbeihoppelnden Hasen. „Ich weiß es nicht“, antwortete dieser.
Und so ging wieder ein Jahr ins Land. Wieder kamen Männer mit Äxten und Beilen, und wieder sah der Baum, wie abgeschlagene Bäume verladen und abtransportiert wurden. „Wohin bringt man sie?“, fragte der Baum einen Spatz, der sich gerade auf den Zweigen niedergelassen hatte. „Ich weiß es“, piepste dieser. „Sie kommen in eine Stube, werden voller Herrlichkeit geschmückt, mit vielen Kugeln, Nüssen und Kerzen. Man nennt sie dann Weihnachtsbäume.“ „Ich will auch“, schrie der Tannenbaum den Männern hinterher, doch sie hörten ihn nicht. „Ich muss wachsen, damit man mich nicht mehr übersieht“, dachte der Tannenbaum, doch dabei war er schon gewachsen, er hatte es nur nicht gemerkt. Voller Ungeduld wartete der Tannenbaum, bis endlich wieder der Winter kam. Und endlich war es so weit, es hatte über Nacht geschneit.
Am nächsten Morgen hörte er schon die Männer kommen. „Hier bin ich“, rief der Tannenbaum. Die Männer blieben stehen, musterten ihn und einer nickte mit dem Kopf. Die Axt hieb in den Stamm. „Oh, das tat weh“, sagte der Baum, als er auf die Seite fiel. Doch was würde er nicht alles auf sich nehmen, um nur ein Weihnachtsbaum zu sein.
Erst als die Männer ihn und auch noch andere Bäume auf den Wagen luden, kam der Tannenbaum wieder zu sich. „Wohin geht es und wie geht es weiter?“, dachte er. Der Wagen machte so viel Krach und kam endlich auf einem Hof an. Dort wurden die Bäume abgeladen. Viele Menschen kamen und schauten. Fast jeder nahm sich einen Baum und verschwand wieder. Der Tannenbaum war nun schon so groß, dass er über alle anderen Bäume hinwegsehen konnte. Nun kamen zwei Männer, die vor ihm stehen blieben. „Der ist gut gewachsen, den nehmen wir.“ Sie packten an und trugen ihn in ein Haus auf der anderen Straßenseite. Die Männer stellten ihn in einen eisernen Fuß, befestigten ihn und brachten ihn in die gute Stube.
Eine Frau fing an, ihn zu schmücken. Da kamen Kugeln an die Zweige, goldene Engel und Glocken. Perlenketten, Lichter und Nüsse an goldenen Fäden schmückten ihn jetzt. Der Tannenbaum war so stolz, dass er seine Krone reckte. Zum Abschluss kam auf seine Spitze noch ein großer Engel. „Oh“, dachte der Tannenbaum, „könnte mich doch jetzt jemand aus dem Walde sehen, so schön, wie ich aussehe.“ Nun wurden die Lichter angezündet. „Wie wunderschön, so einen schönen Baum haben wir lange nicht gehabt. Lass uns die Kinder holen“, sagte die Frau. Die Kinder stürmten herein, blieben vor dem Baum stehen und staunten mit offenen Mündern.
So ein schöner Weihnachtsbaum, wie er strahlte im Lichterschein. Dann wurde gesungen, und die Kinder spielten unter dem Baum. Irgendwann gingen die Lichter aus, der Baum stand allein im Dunkeln. „Morgen geht es sicher weiter. Etwas Besonderes wird noch kommen, ich spüre es in jeder Nadel“, dachte der Baum. Und wieder spielten die Kinder am Baum, die Kerzen wurden angezündet. Der Baum stand da in all seiner Pracht.
Nach einigen Tagen wurden Kisten hereingeschafft. Der Baum wurde abgeschmückt, ganz traurig sah er aus. Dann kamen Männer und schleppten ihn aus der Stube hinaus auf den Hof. Da stand er nun seines Schmuckes beraubt, allein. „Hätte ich mich doch nur gefreut, als die Zeit da war“, dachte der Tannenbaum. „Und hätte ich doch nicht immer mehr haben wollen. Nun ist es zu spät.“
Er merkte, wie seine Nadeln sich von den Zweigen lösten. Und nach kurzer Zeit stand statt des prächtigen Baumes nur noch ein Zweigegerippe. Einige Spatzen hopsten pickend um den Baum herum. Kinder spielten im Hof. Niemand beachtete den Tannenbaum. Nur eine Eule lugte von einer Gaube auf das Geschehen. „Freude gilt es beizeiten zu genießen“, sprach sie auf das Gerippe herab, „schöne Tage währen kurz, schlimme scheinbar ewig“, fügte der kluge Vogel hinzu. Der Tannenbaum nickte mit seiner hageren Krone und die nadellosen Äste ächzten dabei. Das war das Ende des prächtigen Weihnachtsbaums.