Besuch aus anderer Zeit

Eine Geschichte von Undine Stiwich

us Karmitz. Heutzutage glaubt man nicht mehr an Gespenster oder Geister. Doch gibt es sie wirklich nicht?

Es war für den Heiligen Abend ein großes Familienessen geplant – und zwar bei Verwandten von mir im Dorf auf der großen Diele. Wir wussten bei unserer Planung jedoch nicht, wie sehr das Wetter umschlagen würde. Es war für Anfang Dezember frühlingswarm. Selten gab es so hohe Temperaturen zum Ende des Jahres. In weiser Voraussicht besorgten wir Elektroheizer und Heizpilze.

Wie der Teufel es wollte, begann es bereits am 20. Dezember zu schneien. Die Temperatur fiel und fiel bis auf drei Grad zurück. Gut, dass wir vorgesorgt hatten. Ich sah noch einmal die Gästeliste durch, unsere Verwandtschaft ist wirklich groß. 40 Personen inklusive der Kinder hatten zugesagt.

Da die Diele nur im Sommer als Wohnzimmer genutzt wurde, säuberten wir zuerst den Boden, das große Glastor musste geputzt und die Wände von Spinnenweben befreit werden. Als alles wieder vorzeigewürdig war, begannen wir mit dem Schmücken. Zuerst begannen wir die Tische mit Tannenzweigen und Kugeln zu dekorieren. Mein Cousin holte den Tannenbaum herein. Es war wirklich ein stattlicher Baum von über drei Metern Höhe. Wir platzierten ihn vor dem großen Tor, so konnte man ihn auch von draußen bewundern. Kisten mit Weihnachtsschmuck hatten wir schon bereitstehen. Kugeln in allen Farben, Herzen und Tannenzapfen und auch alten Baumschmuck wie Staniolsterne befestigten wir an den Zweigen. Zuletzt legten wir die Lichterkette an. Eigentlich wollte ich echte Kerzen an den Nadelbaum bringen, doch ich ließ mich überzeugen, dass bei diesem großen Baum es besser und sicherer war, elektrische Kerzen zu nehmen. Natürlich hatten wir nicht vergessen, süße Kringel für die Kinder in den Baum zu hängen.

Nun kam der Heilige Abend: Die Diele füllte sich, alle hatten in den Taschen Geschenke für ihre Lieben mitgebracht, die sie unter den Weihnachtsbaum legten. Man begrüßte und umarmte sich, hatte man sich doch eine Ewigkeit nicht getroffen. „Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Es ist doch schon Jahre her. Du hast dich gar nicht verändert“, sagte eine entfernte Tante zu mir. Ich gab natürlich das Kompliment zurück. Bevor die Bescherung der Kinder sein sollte und das Essen aufgetragen wurde, nahm einer der Gäste sein Akkordeon und spielte Weihnachtslieder und alle stimmten bei „Stille Nacht“ ein. Die Kinder wurden schon unruhig und fragten: „Wann ist denn endlich die Bescherung?“ Es dauerte ihnen einfach zu lange. Als nun der Weihnachtsmann die Diele betrat und die Geschenke an die Kinder verteilte – es war auf jedem Päckchen ein Name aufgeklebt – sahen wir nur leuchtende Kinderaugen. An der Seite des Tannenbaums stand ein Mann, den ich nicht kannte. Meine Cousine sagte: „Er kommt mir bekannt vor. Ich weiß nicht, woher ich ihn kenne. Es ist bestimmt ein entfernter Verwandter.“ Mein Cousin meinte, dass er doch seltsam gekleidet war.

Ich betrachtete den Mann genau, er war schon älter und ich schätzte ihn auf etwa 80 Jahre. Er hatte schütteres weißes Haar und war mit einem dunklen Jackett und einer schwarz-weiß gestreiften Hose bekleidet. Seltsam war, dass er über den Schuhen weiße Gamaschen trug, was ja wirklich nicht mehr „in“ war. Er sah zu mir herüber und lächelte. Ich wurde abgelenkt, denn das Essen sollte aufgetragen werden.

Dieses Mal gab es keine Gans, wie sonst bei uns zu Hause, sondern wendländischen Kartoffelsalat und Würstchen, was auch angebracht war. Als wir nun alle gemütlich am Tisch saßen und uns das Essen schmecken ließen, fragte meine Cousine, wo der Mann geblieben war, den wir nicht zuordnen konnten. Unsere Blicke schweiften durch den Raum, doch wir konnten ihn nirgends entdecken. Der Unbekannte war verschwunden. War er ein einsamer Mensch, der sich zufällig in dieses Haus verirrte, um etwas Weihnachtszauber zu erleben, oder war es ein Geist aus einem vergangenen Leben?

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