„Sing doch mal vor. Alleine.“

Anja Renz bietet einen Chor für von Schulmusik Traumatisierte an

bv Langendorf. Nahezu jedes ältere Semester kennt die traumatischen Erinnerungen aus dem Musikunterricht in der Schule: „Sing doch mal was vor. Am besten alleine.“ Unter dem Gejohle der Mitschüler erstickt so manche Sängerkarriere früh – zu früh, findet Musikpädagogin Anja Renz.

Wenige von den unfreiwilligen Sängern trauten sich im späteren Leben überhaupt noch zu singen, die Scham sei zu groß. „Bei einigen ist sie so groß, dass sie sich nicht mal mehr trauen, unter der Dusche zu singen“, berichtet die Stimmtherapeutin von ihren Erfahrungen. Um diesen Menschen zu helfen, hat die Langendorferin einen besonderen Chor gegründet. Sie singt mit Menschen, denen gesagt wurde, dass sie eine hässliche Stimme hätten – und will sie davon überzeugen, dass dem nicht so ist. Denn die menschliche Stimme habe eine große Kraft, nachweislich sogar eine gewisse Heilkraft. Um diese Kraft zu erschließen, bedarf es wenig, es erfordere aber einen mutigen ersten Schritt.

Im Grunde kenne jeder, der eine Schule besucht hat, die Erlebnisse aus dem Musikunterricht. „Es ist immer noch so, dass Singen benotet wird, das finde ich furchtbar“, betont Renz. „Ich frage mich, ob die Musiklehrerinnen und -lehrer an den Schulen überhaupt Ahnung von Stimmbildung haben.“ Benotet werde nämlich immer noch „das Treffen der Töne, so, wie es im Notentext gemeint ist“, meint Renz: „Es wird aber nicht der Gesang als Ganzes benotet. War es schön? Hast du den Text gekonnt? Was macht das Lied mit dir, was der Text? Kannst du es rüberbringen?“

Es sei tatsächlich erschreckend, wie viele Menschen deshalb ein Trauma entwickelt hätten. Das seien aber meistens die, die ganz besonders gern singen würden. „Die lade ich herzlich zu mir ein. Denn ein konventioneller Chor ist noch nicht das Richtige für sie. Bei unserem Projekt aber geht es um bewertungsfreies Singen.“

Zwei Arten von Menschen will sie mit ihrem Chorprojekt ansprechen: Zum einen diejenigen, die „in Verbindung mit sich selbst kommen wollen, mit ihrer Persönlichkeit, ihren Themen. Das geht wunderbar übers Singen. Weil unsere Stimme unmittelbar mit unserer Persönlichkeit verknüpft ist, mit Emotionen, mit allem, was da ist. Das kann man nicht loslösen.“

Die anderen suchten das Singen als Ausgleich zu ihrem Alltag. Während die einen Tiefgang suchten, wollen die anderen die Freude am Singen zurückgewinnen, „wollen Blockaden lösen, gegen das Trauma ansingen“. Und sie spürten, dass Singen und Bewegung guttue.

Renz: „Ich wurde gefragt:Ist das eine Therapie-Sitzung? Nein. Es ist keine Therapie-Sitzung, aber es ist Therapie. Denn Musizieren und Singen hat etwas Therapeutisches, ohne dass man das Feld der Therapie aufmacht.“

Seit über 20 Jahren sei wissenschaftlich untersucht, wie Singen den Lebensmut stärke und Selbstheilungskräfte aktiviere. „Es ist überhaupt nichts Esoterisches, was ich anbiete, vielmehr ist wissenschaftlich belegt, dass es wirkt“, so Renz. Die Verbindung von Singen und Heilung reiche zurück bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte. Das Wissen über die heilenden Aspekte des Singens sei im Westen nahezu aus dem Alltag verschwunden. Aber Singen stärke nachweislich das Immunsystem, bringe das Herz-Kreislauf-system in Balance, mache gute Laune,setze Glückshormone wie Noradrenalin, Serotonin und Beta-Endorphin frei und helfe, Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol abzubauen.

„Ich möchte einen wertschätzenden Raum schaffen, an dem man durch seine Stimme in Kontakt mit sich und der Gemeinschaft kommt, ohne Bewertung, ohne Leistungsdruck. Mein Ziel ist es, Menschen an das Heilpotenzial ihrer Stimme zu erinnern.“ Das Singen in der Community soll ermöglichen, „eine tiefe Form der Verbundenheit zu uns selbst und unseren Mitmenschen zu erleben.“

Gesungen wird alle zweiWochen freitags ab 18.30 Uhr (wieder am 27. Oktober) in Langendorf im Gemeinderaum der Kirche. Infos: (01 73) 6 61 03 92

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