Lebendige Einblicke

Hörenswert: Groß Heider „Archiv“ über Kinderbiografien

bv Groß Heide. Eigentlich war die Veranstaltung „Kinderbiografien: Eltern schreiben über ihren Nachwuchs“ schon für April dieses Jahres geplant. Nun ermöglichten es die gesunkenen Inzidenzzahlen, dass das „Archiv der unveröffentlichten Texte“ vor Kurzem vier faszinierende Biografien vorstellen konnte – öffentlich, auf dem Hof der Groß Heider Gaststätte Schulz, ohne Maske. Die Zuhörer waren neben dem Programm auch von der Atmosphäre begeistert: „Ein herrlich ungewöhnlich-gewöhnlicher Abend“, freute sich eine Zuhörerin.

„Kindersprüche sind Dokumente ihrer Zeit. Sie sind politisch, ohne dass die Kinder es verstehen“, erläuterte ­Sibylle Plogstedt vom Archiv. Aus den 1930er-Jahren hatte sie zwei handgeschriebene Hefte geschenkt bekommen – die Kinderbiografien aus der Familie O. beschreiben die Schwestern Christiane und Marianne, 1932 und ’36 geboren. Die Eltern und Groß­eltern schrieben auf, was sie von ihnen zu hören bekamen, hielten fest, woran die Kleinen sich später nicht mehr erinnern würden. Beide Bände seien als Dokumente auch wertvoll, weil es um Kindheit im Nationalsozialismus ging, so Plogstedt. Sie ermöglichten einen lebendigen Einblick in eine typische Kindheit der 1930er-Jahre, ausdrucksstark von Schauspielerin Nina El Karseh vorgetragen – ein liebevoller Blick, der versucht, sich in die Gedankenwelt der Kinder einzufühlen. Auch der ungewöhnliche Kosename „Porz“ wird nachvollziehbar: Fotos des propperen Kindes waren der Kladde beigefügt.

„Bei einer Freundin entdeckte ich, dass sie immer wieder in einem Text las, den ihre Mutter für sie geschrieben hatte. Kinderbiografien bleiben für die Beschriebenen ein Leben lang wichtig“, erkannte Plogstedt. Diese Freundin, Gisela Brackert, ehemalige Redaktionsleiterin im Hessischen Rundfunk, las aus der Biografie, die ihre Mutter Hilde Rausch über sie verfasst hat. Die Mutter schrieb sich dramatische Ereignisse von der Seele: ihre Flucht mit vier Kindern gegen Kriegsende, 235 Kilometer in 30 Tagen. Aus Bad Kreuznach wollten sie zu Verwandten nach Ibbenbüren. Ihr ursprüngliches Ziel Mainz brannte vor ihren Augen ab. Flucht im Februar 1945 hieß Ausharren auf stockfinsteren Bahnhöfen in Zügen, von denen man nicht wusste, ob sie fuhren, Bombenangriffe auf Züge auf offener Strecke, Flucht in den Schnee, stets getrieben von der Panik, sich in der Dunkelheit im eisigen Winter zu verlieren. Sie bangten um den Bruder, der hohes Fieber bekam. Die detailgenaue Schilderung warf auch Fragen bei den Zuhörern auf. Immerhin habe Deutschland den Krieg begonnen, die Bomber: eine Reaktion auf den Überfall des Deutschen Reiches auf die Welt. „Wir wollen kein einseitiges, gar revanchistisches Geschichtsbild vermitteln, sondern ein Forum bieten für Austausch und Diskussion über historische Texte“, erklärte Archiv-Mitglied Antje Busse: Kritische Nachfragen seien immer willkommen. Brackert erklärte, dass ihr das schon als Kind bewusst gewesen sei – ihre Mutter hatte ihnen schon früh erklärt, dass auch die Kinder in England in Bunkern die deutschen Angriffe fürchteten. Als junge Frau hatte die Mutter als Gesellschafterin in England gearbeitet. Deshalb hörte sie auch in Kriegszeiten illegal BBC Radio und war über das Kriegsgeschehen umfassend informiert.

Nach der Pause las Künstler Walter Reimann aus der ungewöhnlichsten Kinderbiografie des Abends: Dort wurde aus der Perspektive des ungeborenen Walters auf sein und das Leben seiner Mutter geblickt. Die Eltern erwarten dieses erste späte Kind mit großer Vorfreude und sahen in ihm schon den zukünftigen Konditormeister – seine Eltern betrieben das legendäre Café Reimann in Berlin. Sein Vortrag: getragen von beeindruckendem Humor und berührender Emotionalität.

Auch Peter Bauhaus, Drehbuchautor aus Klein Witzeetze, richtete seinen Blick auf ein Kind. Er schaute auf seinen Bruder, der starb, noch ehe er selbst geboren wurde. Bauhaus wurde damit zu einem Ersatzkind, das die Eltern für den Verlust entschädigen sollte. Ein Bruder, der immer ein kleines Kind blieb, während er selbst wuchs und sich an den Eltern und deren Erwartungen rieb. Eine Rolle in der Geschwisterfolge, die zu immer neuen Rebellionen einlud. Ein schlechter Tausch, den die Eltern da gemacht hatten. „Ein schlechter Tausch“ hieß denn auch die Geschichte, aus der Peter Bauhaus las – bewundernswert mutig und offen berichtete der Autor aus dieser schicksalsschweren Konstellation zu Beginn seines Lebens.

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